Klangwechsel am 5. August 2011
Zwei herausragende neue Töne standen im Mittelpunkt des Klanggeschehens beim Klangwechsel am 5. August 2011: Die Töne C und Des sind die beiden bisher tiefsten Töne, die innerhalb der Aufführung des Cage-Stückes erklingen und sie bleiben bis fast an das Ende der Aufführung des ersten Teils im Jahr 2072 liegen. Das C erklingt insgesamt 36 Jahre (bis zum 5.10.2047) und das Des sogar fast 60 Jahre (bis zum 5.3.2071). Weiterhin verabschiedete sich das as‘ nach über 3 Jahren auf unbestimmte Zeit. Es wird erst in einem der nächste Teile wieder gebraucht, deren Reihenfolge von nachfolgenden Generationen bestimmt wird.
Begleitet wurde der besondere Klangwechsel von einem Konzert im Herrenhaus mit zwei herausragenden Musikern auf zwei selten zu hörenden Instrumenten: Christoph Bossert und Armin Fuchs (Würzburg) haben ein Programm mit Musik von Cage und Bach zusammengestellt, interpretiert auf Clavichord und präpariertem Klavier.
Das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt in Halberstadt
Zur Musikgeschichte Halberstadts gehört auch ein ganz „verrücktes“ Projekt, nämlich eine auf 639 Jahre angelegte Realisierung des Orgelstückes ORGAN²/ASLSP des amerikanischen Komponisten und Avantgardekünstlers John Cage (1912-1992). Ver-rückt in der Bedeutung „nicht am üblichen Platz befindlich“ ist dieses Projekt, weil es die herkömmlichen Erwartungen der Musikfreunde an ein Konzert, etwa an Melodie und Rhythmus oder auch es im Ganzen zu Ende hören zu können, nicht erfüllt. Aber man kann mit offenen Ohren und mit offenem Geist in der fast tausend Jahre alten Burchardi-Kirche seit Beginn des 3. Jahrtausends eine Zeit- und Klangerfahrung ganz eigensinniger Art erleben. Ein wahrhaft transepochales Zeit-Stück, einen Klang-Raum mit erlebter Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft, ein weltweit anerkanntes Referenzprojekt moderner Musik und Kunst, das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt.
Zeit-lose Klänge, still im Raum
Manche Besucher sehen aufgrund der in der Kirche angebrachten datierten Spendertafeln, nur einen skurrilen Indoor-Friedhof mit Musik. Andere entdecken an den Wänden die Spuren von mehr als 639 Jahren Vergangenheit, erkennen in der Klang-Skulptur die gleichsam graphische Notation der jeweiligen wenigen Töne und hören einen höchst diffizilen und im Raum changierenden Klang. Manch einer hat das Gefühl, ein Stück Ewigkeit zu erfahren. Die Muße und sanfte Gelassenheit, mit der viele Hörer die unnachahmlichen Klänge aufnehmen, hat oft etwas Meditatives. Darüber hinaus fasziniert die meisten Besucher der philosophisch-optimistische Umgang mit der Zeit und mit der Zukunft. In einer Gegenwart, in der Viele bis zur Erschöpfung von Termin zu Termin hetzen, man also buchstäblich keine Zeit hat, wird ein Projekt begonnen, dessen Dauer in etwa der Gesamtbauzeit des Kölner Domes entspricht. Klänge, die Monate oder Jahre andauern, vermitteln ein Gefühl der Zeitlosigkeit oder des Anhaltens der Zeit. Das Kontinuum der Zeit und der Geschichte scheint aufgesprengt, ohne daß auf Uhren geschossen wurde. Mit Walter Benjamin könnte man von einer Gegenwart sprechen, die nicht Übergang ist, sondern in der die Zeit einsteht und zum Still-Stand gekommen ist. Und wenn dieses Projekt, wie es heute geplant ist, bis zum Schluss realisiert wird, dann hat zumindest das Gebäude der ehemaligen Burchardi-Kirche am 4. September 2640 einen so langdauernden Frieden erlebt wie noch nie zuvor in der Geschichte.
Cage, aber warum Halberstadt?
John Cage, 1912 in Los Angeles geboren und 1992 kurz vor seinem 80. Geburtstag in New York gestorben, war nie in Halberstadt. Als Schüler von Arnold Schönberg arbeitete er nicht nur als Musiker, sondern auch als Philosoph, bildender Künstler und Sprachartist. Er hat die moderne Musik revolutioniert. Für ihn sind alle Klänge, Töne und Geräusche gleichberechtigt, haben die alle gleiche Würde. Ihn interessierten vor allem die neuen, noch nicht gehörten, überraschenden Klänge. Sein Umgang mit dem Klangmaterial kann man als De-Komposition bezeichnen; die Subjektivität des Komponisten, seine Neigungen und Abneigungen, sollen zurückgenommen werden, deshalb arbeitete er sehr viel mit Zufallsoperationen. Es ging ihm um die Ausschöpfung aller Möglichkeiten formaler und struktureller Beziehungen, um die schillernde Vielfalt des Nichtstrukturierten. Er war an der Einleitung von Prozessen interessiert, deren Fortgang nicht vorhersehbar ist.
Er trat für die Utopie eines nicht-intentionalen, nicht-instrumentellen Lebens, eines einfachen So- und Da-Seins ein, für die Freiheit und die Offenheit. „I am for the birds, not for the cages.“ – was ebenso für das gilt, was wir Stille nennen, die für Cage nur die Abwesenheit von beabsichtigten Klängen bedeutet.
1985 hat Cage für einen Klavierwettbewerb das Stück ASLSP mithilfe von Zufallsoperationen komponiert. 1987 hat er den doppeldeutigen Titel – As SLow aS Possible, aber auch der Verweis auf „Soft morning, city! Lsp!“ aus dem letzten Kapitel von James Joyce‘ Finnegans Wake: as Lsp – zu einem neuen Stück für Orgel umgeschrieben: ORGAN²/ASLSP. Beteiligt war dabei der deutsche Organist Gerd Zacher, dem dieses Stück gewidmet ist. Er hat es im selben Jahr in Metz in etwas über 29 Minuten uraufgeführt. Das Stück besteht aus acht Teilen, von denen jedes gespielt werden muss und jedes wiederholt werden kann. Nichts ist festgelegt – außer der Tonhöhe und der Dauer der Klänge. Eine Klaviersaite verklingt. Die Orgel ist ein Blasinstrument, ein Aerophon, daß den Ton halten kann, solange sie mit Wind versorgt wird. Was also heißt „so langsam wie möglich“ bei einer Orgel? 1998 haben auf der zweiten Tagung für neue Orgelmusik in Trossingen Komponisten, Organisten, Musikwissenschaftler, Orgelbauer, Theologen und Philosophen, von denen einige eng mit Cage zusammengearbeitet haben wie Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn und Hans-Ola Ericsson, mit anderen, die von Cage fasziniert waren, wie Christoph Bossert, Jakob Ullmann und Karin Gastell, die damals u-topische Idee einer Realisierung dieses Stückes, das sich an der Lebensdauer einer Orgel orientiert, entwickelt.
In der Halberstädter Burchardi-Kirche wurde durch die Vermittlung von Johann Peter Hinz zuerst der Ort der Aufführung gefunden. Dann erinnerte man sich, daß Halberstadt schon einmal Orgel- und Musikgeschichte geschrieben hat. Mitte des vierzehnten Jahrhunderts gab es im Halberstädter Dom die wahrscheinlich erste Großorgel mit einer 12-tönigen Klaviatur. Michael Praetorius – der wichtigste Musiktheoretiker des 17. Jahrhunderts und Komponist des Liedes „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ – hat die Orgel noch, allerdings in einem unbespielbaren Zustand, gesehen. Er beschreibt im zweiten Band seines Syntagma Musicum von 1619 die Blockwerksorgel, deren Prospekt etwa 8 m breit war, mit Pfeifen aus Blei, diese dünn mit Zinn belegt und bemalt, die größten davon 32 Fuß hoch, und mit zweimal 10 Tretbälgen bestückt. Die Fertigstellung dieser Orgel von Nicolaus Faber 1361 gab die Orientierung für die Dauer der Aufführung: Mit der Jahrtausendwende als Spiegelachse wurde die Dauer auf 639 Jahre festgelegt und durch Christoph Bossert und Rainer O. Neugebauer die Klangwechsel des ersten Teils bis 2072 berechnet.
Am 5. September 2000, Cage‘s 88. Geburtstag, startete das Projekt in Halberstadt. Ein Jahr später trat der Blasebalg in Aktion, 2003 erklangen die ersten Pfeifen auf der provisorischen Orgel.
2006 war sehr hektisch, es fanden zwei Klangwechsel in einem Jahr statt. Seit 2012 erklingen nur die beiden 16-Fuß-Baßpfeifen c‘ und des‘ – letztere übrigens bis zum Jahr 2071. Ein Sound, der zwischen Maschinenraum und Hamburger Hafen changiert. Am 5. Oktober 2013 wurde das Ganze zu einem Fünfklang ergänzt, der sich fast sieben Jahre lang, bis zu Cage’s 108. Geburtstag im Jahr 2020, nicht geändert hat. Am 5. September 2020, wiederum an einem Cage-Geburtstag, hieß es "5to7". Die Orgel erhielt in einem feierlichen Akt des Klangwechsels, zwei weitere Orgelpfeifen. So, wie es die Partitur vorgibt.
Offene Fragen, wunderbar
Was hätte Cage zum Halberstädter Projekt gesagt? Man kann bestenfalls spekulieren. Cage – immer radikal, niemals konsequent – hat auf den Vorwurf, seine Stücke seien zu lang, geantwortet, daß er selbst für sein berühmtes stilles Stück 4' 33'' (Vier Minuten 33 Sekunden), dessen drei Sätze mit „Tacet“ überschrieben sind, „a very long performance“ für nötig hielt. Aber: Sind hunderte von Jahren selbst für ASLSP nicht etwas zu lang? Ist es gar, nach Gerd Zacher, nur ein auf einen Gag reduzierter Jahrhundertespuk?
Über diese und andere Fragen streitet die Nach- und Fachwelt lustvoll. Ist der künstlerische Ansatz nicht ein wenig dürftig? Wie genau werden die Zeitpunkte der Klangwechsel berechnet? Müssten die Klangwechsel selbst nicht ebenso gedehnt werden wie die Klänge? Durfte man die „Pause“, mit der das Stück beginnt, einfach beenden? Kann man zunächst ohne Orgel und dann mit einem unvollständigen, provisorischen Instrument überhaupt eine Aufführung anfangen? Was ist, wenn wir vor lauter Ungeduld zu schnell gespielt haben und der Zeit 11 Monate voraus sind? Darf man das später durch langsameres Spielen kompensieren? Was heißt dann langsamer als „as slow as possible“? Was ist, wenn das Konzert unterbrochen wird, weil der Blasbalg ausfällt? Wer sind eigentlich die Musiker bei diesem Konzert? Ist es überhaupt ein Konzert, wenn oft keine Hörer anwesend sind? Jeden Abend, wenn die letzten Besucher gegangen sind, heißt es dann: Die Kirchtür zu und alle Fragen offen! Cage hätte sich gefreut, er liebte Fragen: „That is a very good question. I should not want to spoil it with an answer.“
Die New York Times fand im Jahr 2006 etwas typisch Deutsches an diesem Projekt, nämlich, daß es noch da ist. Und das ist nicht selbstverständlich, denn das Geld ist gerade für ambitionierte und avantgardistische Kunst und Kultur knapp. Getragen wird das Projekt von einer privaten Stiftung, die mit minimalem Grundkapital ausgestattet ist und rein ehrenamtlich geleitet wird, und es lebt in erster Linie von der Spendenbereitschaft der Cage-Enthusiasten, privater Förderer und der vielen Besucher. Eine John-Cage-Akademie mit ihrem Gründungspräsidenten Dieter Schnebel befindet sich im Aufbau. Viele Konzerte, Lesungen, Ausstellungen, Seminare in Kooperation mit Musikhochschulen aus dem In- und Ausland, Meisterkurse mit der Verleihung des Cage-Preises und wissenschaftliche Tagungen mit internationaler Beteiligung sind dazu stark beachtete Vorarbeiten.
Für die einen wurde in St. Burchardi ein musikalisches Apfelbäumchen gepflanzt, für die anderen ist es eine musikalische Flaschenpost nach der Idee eines amerikanischen Anarchisten, der dem Zen-Buddhismus nahestand. ORGAN²/ASLSP ist ein gleichzeitig radikales, irritierendes, offenes und äußerst sanftes Kunst-Projekt, „…’s geht über Menschenwitz … des Menschen Auge hat’s nicht gehört, des Menschen Ohr hat’s nicht gesehen.“ Ein Traum so seltsam angezettelt. Eine ehemalige Klosterkirche als Klang(t)raum, das mehr als 639 Jahre Vergangenheit sichtbar werden lässt und mit der Kraft der Ernst Bloch’scher Hoffnung für mehr als 639 Jahre Zukunft gefüllt ist.